Interview mit Carsten Mumm, Chefvolkswirt bei der Privatbank Donner & Reuschel

 

Frage:  Herr Mumm, 2019 endet mit etwa 25 Prozent Kursplus für den deutschen Aktienindex DAX, internationale Aktien konnten teilweise noch deutlicher zulegen. Auch mit Immobilien, Gold, Unternehmens- und selbst mit Bundesanleihen konnten Anleger eine ordentliche Rendite einfahren. Was waren die Hintergründe für diese überraschenden Entwicklungen?

Mumm: Mit diesen Wertentwicklungen war vor 12 Monaten tatsächlich nicht zu rechnen. Vor allem der Schwenk der US-Notenbank Fed zu einer wieder expansiven Geldpolitik im ersten Quartal sowie die erneuten Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank EZB haben Anleger dazu veranlasst auf „risk-on“ umzuschalten. Im Sommer 2019 belief sich das weltweite Volumen aller Anleihen mit negativer Rendite auf über 17 Billionen US-Dollar – kein Wunder, dass viele Investoren Aktien bevorzugten, obwohl die Wachstumsdynamik vor allem in der Eurozone erheblich nachgab. Deutschland hat nur noch ein Wirtschaftswachstum nahe der Nulllinie zu verzeichnen. Viele Unternehmen hatten erhebliche Gewinneinbußen zu verkraften.

Frage: Wird der Einfluss der EZB auf die Kapitalmärkte auch in 2020 eine Rolle spielen? Viele sagen, die Notenbank ist aufgrund der Nullzinsen am Ende ihrer Möglichkeiten.

Mumm: In Europa dürfte die Geldpolitik der EZB sogar ein noch relevanteres Thema werden. Die dauerhaften Niedrigzinsen erzeugen zweifellos negative Nebenwirkungen, wie Preisblasen in verschiedenen Anlageklassen, Probleme bei der Bildung ausreichender Altersvorsorge für viele Sparer, ertragsschwache Finanzinstitute und den Druck für viele Anleger, immer risikoreicher anzulegen. Immer mehr Menschen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sehen in der Notenbank die alleinige Verursacherin der Niedrigzinssituation. Im Herbst kam es sogar zu einer öffentlich diskutierten Aufspaltung des EZB-Rates, dessen Mitglieder die letzten expansiven geldpolitischen Schritte nicht mehr einheitlich mitgetragen haben. Dadurch erodiert zunehmend das Ansehen und der Rückhalt der EZB – zumindest in vielen nördlichen Staaten der Eurozone – und damit letztlich auch die Stabilität des Euro.

Frage: Welche Möglichkeiten bleiben der EZB? Inwieweit kann die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde neue Impulse setzen?

Mumm: Der fehlende interne und öffentliche Rückhalt für die EZB-Entscheidungen ist für Christine Lagarde nicht hinnehmbar. Sie kann daher den bisherigen geldpolitischen Kurs ihres Vorgängers Mario Draghi nicht einfach weiterführen – zumal die letzte Zinssenkung und die Wiederaufnahme der Wertpapierkäufe weder die Kreditvergabe noch die Konjunktur angekurbelt haben. Sie kann aber aufgrund der schwachen Wachstumsdynamik und wegen des ohnehin kaum vorhandenen Inflationsdrucks in der Eurozone auch nicht auf einen restriktiven geldpolitischen Kurs umschwenken. Mit steigenden Leitzinsen entstünde zudem die Gefahr, dass die Kurse von Anleihen, Aktien und Immobilien gleichzeitig kollabieren sowie Unternehmensanleihen und –kredite vermehrt ausfallen würden. Die Konjunktur würde noch viel stärker belastet werden.

Frage: Wird die EZB also an ihrem geldpolitischen Lockerungskurs festhalten?

Mumm: Zumindest die Leitzinsen werden bis Ende 2020 unverändert bleiben. Meines Erachtens bestünden nach sorgfältiger kommunikativer Vorbereitung Möglichkeiten, die negativen Einlagenzinsen in den kommenden Monaten sukzessive anzuheben. Auf jedem Fall aber wird Lagarde deutlich präsenter in der Öffentlichkeit auftreten und offensiv für die Anliegen und die Ausrichtung der EZB-Geldpolitik werben, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Auch hat sie bereits einen umfassenden Review der geldpolitischen Strategie der EZB angekündigt – ein sehr wichtiger Schritt. Unter anderem wird das angestrebte Inflationsziel von 2 Prozent infrage gestellt. Und sie wird den Druck auf die Fiskalpolitik erhöhen, um die Wirtschaftsdynamik in der Eurozone durch Strukturreformen und staatliche Ausgaben zu steigern. Nur im Fall einer drohenden Rezession in der Eurozone oder bei größeren Turbulenzen an den Kapitalmärkten, wären erweiterte Wertpapierkäufe inkl. Aktien oder im Notfall auch direkte Kapitaltransfers an Staaten, Unternehmen oder Private denkbar (Helikoptergeld).

Frage: Neben der Geldpolitik standen die internationalen Kapitalmärkte in 2019 fast durchgängig auch unter dem Einfluss verschiedener politischer Entwicklungen, wie dem Brexit oder dem Handelskonflikt zwischen China und den USA. Wie schätzen Sie das Jahr 2020 unter diesem Gesichtspunkt ein?

Mumm: Offensichtlich haben (geld-) politische Börsen derzeit „sehr lange Beine“. Mit Sicherheit werden Handelskonflikte zwischen China und den USA aber auch zwischen bspw. den USA und Europa noch jahrelang auf der Agenda stehen. Hintergrund ist, dass derzeit eine fundamentale Umorientierung jahrzehntelang gültiger wirtschaftlicher, technologischer und militärischer Machtgefüge stattfindet. Die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einzige verbliebene globale Weltmacht USA wird durch die kommende wirtschaftliche Nummer eins China herausgefordert. Der Handelskonflikt ist in diesem Sinne auch ein Werkzeug, um den Aufstieg Chinas zumindest zu verzögern. Den derzeit in vielen Regionen vorherrschenden wirtschaftspolitischen Trend zu mehr Protektionismus dürfte auch Europa in den kommenden Monaten zu spüren bekommen, indem einzelne Staaten und Branchen mit direkten Handelskonflikten konfrontiert werden. Aber auch in Europa könnten politische Entwicklungen für zwischenzeitliche regional begrenzte Unsicherheiten sorgen, etwa instabile Regierungskonstellationen in Spanien, Italien oder im Falle eines Platzens der Großen Koalition ggf. auch in Deutschland.

Frage: Welche Rolle spielt die im kommenden Jahr anstehende Präsidentschaftswahl in den USA für die Kapitalmärkte?

Mumm: Der Präsidentschaftswahlkampf dürfte in den USA und mit Abstrichen wohl auch global einer der maßgeblichsten Einflussfaktoren für die Börsen in 2020 sein. Wie kaum jemals zuvor wirkt sich schon heute fast jede Äußerung Donald Trumps unmittelbar auf die Kurse aus. Für Trump dürften im nächsten Jahr zwei Seismografen besonders ausschlaggebend sein: die jeweils aktuellen Umfragewerte sowie der Stand des wichtigsten US-Aktienindex S&P 500. Deutlich fallende Aktienkurse würden die Chancen für seine Wiederwahl wohl erheblich senken. Wann immer hier negative Tendenzen drohen, wird er mit allen Mitteln versuchen, die Stimmungslage wieder zu drehen. Das macht einerseits das Wirken des US-Präsidenten wohl noch unberechenbarer – vor allem bzgl. internationaler Themenfelder, wie der Handelskonflikte. Generell hat er aber ein Interesse an einem ruhigen Verlauf für Konjunktur und Kapitalmärkte, weshalb der Wahlkampf die Lage eher stabilisieren sollte. Im Zweifel könnte Trump bspw. die nächste Steuerreform, diesmal zur Entlastung kleinerer und mittlerer Einkommen, uns Spiel bringen und so den Konsum, die Wirtschaft sowie die Aktienkurse unterstützen.

Frage: Und wie steht es um den Brexit? Hier scheint der Weg doch vorgezeichnet, Großbritannien wird die Europäische Union voraussichtlich Ende Januar verlassen.

Mumm: Tatsächlich ist der Vollzug des Brexit per 31. Januar 2020 jetzt wahrscheinlich. Alle Unsicherheiten sind damit allerdings nicht beseitigt. Großbritannien und die EU sind sich nur über Ihre Trennung einig. Die Formalitäten, also die künftigen Handels- und Kapitalverkehrsbeziehungen sowie die Reisebestimmungen etc. müssen erst noch im Detail ausgehandelt werden. Das dürfte bis Ende 2020 kaum gelingen, so dass ein Antrag auf Verlängerung der Übergangsfrist durch die britische Regierung spätestens im Herbst 2020 vorgetragen werden müsste. In diesem Zuge könnte sogar das Szenario eines ungeregelten Brexit wieder auf die Agenda geraten. Unternehmen fehlt in der anstehenden Verhandlungsphase zunächst weiterhin eine klare Planungsgrundlage. Konkrete Ergebnisse werden sich erst langsam und sukzessive ergeben, so dass der Brexit-Prozess die Konjunktur in der gesamten EU auch in 2020 belastet und auch an den Kapitalmärkten je nach Stand der Verhandlungen immer wieder für Bewegung sorgen dürfte.

Frage: Die deutsche Konjunktur ist in den letzten Quartalen nur knapp an einer „technischen Rezession“ vorbeigeschrammt. Geht es in den nächsten Monaten wieder aufwärts?

Mumm: Das ist aus heutiger Sicht noch nicht sicher. Klar ist, dass die wichtigste Komponente für die deutsche Volkswirtschaft, die Industrieproduktion schon seit Mitte 2018 schrumpft. Hintergründe sind neben einem normalen zyklischen Abschwung vor allem die strukturellen Probleme der Automobilindustrie sowie die Belastungen des Exports durch Handelskonflikte. Frühindikatoren wie der ifo-Geschäftsklimaindex deuten für die Industrie bisher noch keine Besserung an. Vielmehr besteht die Gefahr, dass zunehmende Nachrichten über Kurzarbeit und Entlassungen auch den noch sehr dynamischen Konsum immer stärker negativ beeinflussen. Zwar gibt es strukturelle Effekte, die in 2020 für eine steigende Wirtschaftsleistung sorgen, etwa mehr Arbeitstage als in 2019. Allerdings ist die Gefahr einer negativen Spirale aus globalem Konjunkturabschwung, Handelskonflikten, Investitionszurückhaltung, Rückgang des globalen Handels, Industrierezession, Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt und am Ende nachgebendem Konsum nicht auszuschließen.

Frage: Immer wieder kamen auch Sorgen um das chinesische Wachstum auf. Besteht von dieser Seite Gefahr für die deutsche Wirtschaft?

Mumm: Der ausschließliche Blick auf das Wachstum in China greift zu kurz. China hat sich in den letzten 30 Jahren von einer bäuerlich geprägten Volkswirtschaft zu einem führenden Industriestandort entwickelt. In dieser Zeit hat sich das Bruttoinlandsprodukt um den Faktor 32 vervielfacht und der Wohlstand ist parallel enorm angestiegen. Aufgrund der gestiegenen Löhne kann China künftig nicht mehr die billige Werkbank der Welt sein, sondern entwickelt sich weiter zu einer führenden Technologienation und in absehbarer Zeit zur größten Volkswirtschaft der Welt. Mit steigendem Wohlstandsniveau nehmen Wachstumsraten sukzessive ab – ein ganz normaler Effekt. Aufgrund des Anteils Chinas am kaufkraftbereinigten globalen BIP in Höhe von heute schon etwa 20 Prozent haben jedoch selbst die niedrigeren Wachstumsraten einen entscheidenden Effekt für die globale Konjunktur. In den kommenden Monaten ist von Wachstumsraten nahe 6 Prozent auszugehen. Die Dynamik der chinesischen Volkswirtschaft schwächt sich also im Rahmen des Transformationsprozesses ab. Ein deutliches Einbrechen des Wachstums – eine sogenannte „harte Landung“ – ist jedoch nicht zu erwarten.

Frage: Die US-Volkswirtschaft wächst noch immer deutlich stärker als die Eurozone. Bleibt dieser Vorsprung bestehen?

Mumm: In den USA wird das BIP-Wachstum in 2020 voraussichtlich unter die Marke von 2 Prozent fallen. Hintergrund sind die auslaufenden stimulierenden Effekte der letzten Steuerreform, die negativen Auswirkungen der Handelskonflikte mit steigenden Preisen und sinkender Nachfrage für bestimmte Güter sowie die global nachlassende Wirtschaftsdynamik. Einen deutlichen Abbruch des US-Wachstums wird vor allem der nach wie vor sehr robuste und für die US-Volkswirtschaft sehr wichtige Inlandskonsum aber verhindern. Der nahezu voll ausgelastete Arbeitsmarkt sorgt für steigende Löhne und damit weiterhin für einen zunehmenden privaten Konsum. Demgegenüber wird das Wachstum in der Eurozone in 2020 leicht zulegen, voraussichtlich auf etwa 1 Prozent. Die Wachstumsdifferenz dürfte also leicht schrumpfen, aber dennoch signifikant bleiben.

Frage: Welche Perspektiven bieten sich vor diesem Hintergrund für Anleger in 2020?

Mumm: Auf der Zinsseite wird das strukturelle Niedrigzinsniveau auf absehbare Zeit bestehen bleiben. An den Aktienmärkten sind viele positive Entwicklungsmöglichkeiten wohl schon in diesem Jahr in die Notierungen eingeflossen und haben für die überraschend deutlichen Kursgewinne gesorgt. Der konjunkturelle Abschwung schlägt sich hingegen kaum in den derzeitigen Aktienkursen nieder. Eingepreist sind offensichtlich keine weiteren Eskalationen im Handelskonflikt und kein ungeregelter Brexit, dafür aber weiterhin expansive Geldpolitik. Für erneut deutliche Kurssteigerungen braucht es daher neue positive Impulse, die derzeit jedoch noch nicht erkennbar sind. Ein aktives Management könnte daher im kommenden Jahr gegenüber einer passiven Indexanlage im Vorteil sein.

Frage: Welche Aktien oder Branchen sind in den kommenden Monaten besonders attraktiv?

Mumm: Bei der Aktienauswahl sollten Anleger sich generell nicht mehr so sehr auf klassische Branchenzuordnungen fokussieren. Einerseits steht nahezu jedes Unternehmen vor enormen Herausforderungen angesichts einer Fülle von substantiellen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung, des demografischen und des Klimawandels. Daraus resultieren erhebliche Veränderungen für bestehende Geschäftsmodelle. Wer diese Transformationsphase am besten durchläuft, lässt sich weniger auf Branchen- als vielmehr auf Ebene jedes einzelnen Unternehmens ermitteln. Einige werden existenzielle Krisen erleben, während andere bestehende Chancen konsequent und erfolgreich nutzen können. Am besten aufgestellt sind Unternehmen, die aktiv an der Gestaltung der Zukunft mitarbeiten. Diese sogenannten „Zukunftbeweger“ helfen beim Sparen von Ressourcen, realisieren effiziente Produktionsprozesse, verringern negative Umwelteinflüsse, achten auf faire Handelsusancen und Arbeitsbedingungen in der gesamten Wertschöpfungskette etc. Sie haben nicht nur die Interessen der Kapitalgeber im Blick, sondern nehmen auch auf Angestellte, Zulieferer und alle weiteren mit Ihnen in Kontakt stehenden Interessengruppen Rücksicht. Die Einhaltung höchster Standards bzgl. der Aspekte Umweltschutz, Soziales und Unternehmensführung wird künftig immer mehr zu einem eigenen Entscheidungskriterium für Anleger werden. Ihnen ist an der zukunftsorientierten und positiven Wirkung ihrer Kapitalanlage gelegen. Unternehmen, die sich diesen Standards verpflichten, haben zudem ein deutlich geringeres Reputations-, Prozess- und damit Schadenersatzrisiko. Andere Unternehmen werden in Zukunft höhere Refinanzierungskosten zu tragen haben.

Andererseits verschwimmen durch neue technologische Errungenschaften zunehmende klassische Branchenunterscheidungen. Bspw. entwickeln sich Autobauer zu Anbietern von Mobilitätskonzepten und legen einen Schwerpunkt auf die Entwicklung von Software und Künstlicher Intelligenz zur Realisierung autonomen Fahrens. Maschinenbauer können durch Ausnutzung der durch Maschinen generierten Daten Beratungsansätze entwickeln etc.

Frage: Derzeit wird sehr viel über einen mit der Krise 2008 vergleichbaren und unmittelbar bevorstehenden Crash geschrieben und gesprochen. Besteht diese Gefahr?

Mumm: Ich glaube derzeit nicht an ein solches Szenario. Heftige Finanzmarkt- oder Wirtschaftskrisen werden zumeist von überraschenden Entwicklungen und nach emotional unterstützten Übertreibungsphasen ausgelöst. Zweifellos führt vor allem die jahrelange Niedrigzinspolitik vieler Notenbanken zu enormen Verwerfungen und gravierenden Problemen. Allein der Fakt, dass alle darüber reden, die Notenbanken diese Risiken selbst benennen und beginnen, diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu bekämpfen, spricht jedoch gegen eine dadurch ausgelöste Krise. Obwohl viele Aktienindizes auf oder nahe ihren Allzeithochs notieren, ist keinerlei Euphorie zu spüren. Im Gegenteil ist die Angst vor deutlichen Kursverlusten allgegenwärtig. Das zeigt, dass die meisten Kapitalmarktteilnehmer nach wie vor skeptisch sind. Das wahrscheinlichste Szenario für 2020 ist daher ein moderates Wirtschaftswachstum mit weiter niedrigen Zinsen und tendenziell steigenden Aktien- und Immobilienpreisen.

 

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