Marktkommentar Von Thierry Larose, Portfoliomanager, Vontobel

 

Umfragen sehen den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva in Führung, doch sein Vorsprung auf den jetzigen Amtsinhaber Jair Bolsonaro nimmt ab

Die Märkte sind bislang noch unbeeindruckt und vertrauen darauf, dass beide Kandidaten für die Regierungsbildung eine Koalition mit den Parteien der Mitte eingehen müssen

Bis zur Stichwahl Ende Oktober dürfte die kurzfristige Marktvolatilität zwar zunehmen, doch die Konjunkturaussichten für Anfang 2023 sind günstig

Die Wahlen in Brasilien gehen am Sonntag, 2. Oktober, in die erste Runde. Wahlumfragen sehen den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva sowohl in der ersten als auch in der zweiten Runde mit einem komfortablen Vorsprung vor dem Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Zwar weisen die Umfragen eindeutig in Richtung eines Sieges von Lula, doch der Abstand zwischen den beiden Spitzenkandidaten hat sich seit Anfang des Jahres kontinuierlich verringert. Es bleibt abzuwarten, ob die jüngste Verbesserung der brasilianischen Konjunktur und die Abkühlung des Inflationsdrucks die Chancen Bolsonaros erhöhen und die Meinungsforscher ihre Vorhersagen doch noch revidieren werden. Das ist allerdings nicht unser Basisszenario.

Zwischen Lula und Bolsonaro besteht eine enorme ideologische Kluft, die sich auch in ihren politischen Programmen widerspiegelt: Lula vertritt den internationalen Sozialismus, während Bolsonaro die moralischen Werte des nationalistischen Konservatismus vertritt. Im Moment sind die Märkte jedoch aus zwei Gründen relativ zurückhaltend:

Obwohl beide Kandidaten pragmatische Populisten sind, die jeden fiskalischen Spielraum lieber für Sozialleistungen und Subventionen als für staatliche Investitionen ausgeben wollen, sind sie sich der roten Linien bewusst, die im Hinblick auf die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung nicht überschritten werden dürfen.

Es wird erwartet, dass keiner von ihnen die absolute Mehrheit im Kongress haben wird. Daher werden Lulas Arbeiterpartei (PT) und ihre Linkskoalition ihre radikal linke Rhetorik abschwächen müssen, um die Unterstützung einiger Mitte-Links-Parteien zu erhalten. Bolsonaros Liberale Partei (PL) ist viel kleiner als Lulas PT und wird ebenfalls viele Zugeständnisse machen müssen, um die Unterstützung der Mitte-Rechts-Parteien zu gewinnen. Die Märkte scheinen darauf zu vertrauen, dass die Parteien der Mitte (auch “Centrão” genannt) stark genug sein werden, um erneut die Königsmacher zu spielen.

Besetzung des Wirtschaftsministeriums entscheidend

Ein wichtiger Indikator für die Märkte wird die Ernennung des Wirtschaftsministers sein. Bolsonaro würde wahrscheinlich Paulo Guedes behalten. Im Fall von Lula ist die Unsicherheit größer, wer diese wichtige Rolle übernehmen wird. Die Märkte werden einen Gemäßigten begrüßen, der keine unverantwortliche Finanzpolitik betreiben würde. Lula hat angekündigt, dass er einen Nicht-Technokraten bevorzugt. Als gut positioniert für diese Rolle gelten unter anderem Wellington Dias, Gouverneur von Piauí, oder Alexandre Padilha, ehemaliger Gesundheitsminister unter der Regierung von Dilma Rousseff, da sie über die politischen Fähigkeiten verfügen, mit dem Kongress und innerhalb des Kabinetts zu verhandeln.

Vor kurzem hat der ehemalige Zentralbankchef und Wirtschaftsminister Henrique Meirelles seine Unterstützung für Lulas Kampagne erklärt. Die Märkte feierten diese Schlagzeile sofort und wetteten auf die Möglichkeit, dass er sich dem Team anschließen und wieder eine Rolle übernehmen könnte, die er bereits unter der Präsidentschaft von Michel Temer zwischen 2016 und 2018 erfolgreich ausgeübt hat. Wir würden diesen Optimismus jedoch mit Vorsicht genießen, da es unwahrscheinlich ist, dass Lula seine Entscheidung vor der Wahl bekannt gibt.

Herausforderungen für die brasilianische Wirtschaft in den kommenden Jahren

Der brasilianische Haushalt ist sehr starr, da die Verfassung eine Vielzahl von Ausgaben vorschreibt, die Steuereinnahmen zweckgebunden sind und bestimmte Ausgaben als „obligatorisch“ eingestuft werden. Dies führt dazu, dass ein sehr großer Teil des Haushalts jedes Jahr einer wirksamen Kontrolle entzogen wird. Man schätzt, dass über 90 % des Haushalts diesen starren Vorgaben unterliegen. Diese Rigidität macht es fast unmöglich, öffentliche Mittel für große Investitionsprogramme zu verwenden. Infolgedessen braucht ein Präsident viel Zeit und Geduld, um seine wirtschaftlichen Versprechen einzuhalten. Das wird auch noch einige Zeit so bleiben, bis es endlich einen Weg gibt, diese Unflexibilität in einer für die Bevölkerung akzeptablen Weise aufzubrechen.

Das wirtschaftliche Vermächtnis der bisherigen Präsidentschaften von Lula und Bolsonaro

Lula profitierte vom Globalisierungsboom der frühen 2000er Jahre, ohne größere Fehler zu machen, und nutzte die Öffnung Chinas für den Welthandel und den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 optimal aus. Selbst die globale Finanzkrise im Jahr 2008 hat das Land im Vergleich zu vielen entwickelten Volkswirtschaften relativ unbeschadet überstanden. Unter Lula erlebte das Land eine Phase des Wohlstands, im Gegensatz zu den schwierigeren Zeiten während der Präsidentschaft Bolsonaros.

Der jetzige Präsident wird kein besonderes wirtschaftliches Vermächtnis hinterlassen, weil er vom ersten Tag seiner Amtszeit an alle wirtschaftlichen Angelegenheiten seinem Wirtschaftsminister Paulo Guede überlassen hat. Minister Guedes wird als „Chicago Boy“ in Anlehnung an die Theorien von Milton Friedman und Friedrich August von Hayek in Erinnerung bleiben, der hart daran gearbeitet hat, den wirtschaftlichen Staatsanteil zu verringern, sowohl die Steuern als auch die öffentlichen Ausgaben zu senken und so viele staatliche Unternehmen wie möglich zu privatisieren. Zu seinem Vermächtnis gehören mehrere Reformen, von denen die Rentenreform im Jahr 2019 die wichtigste war. Eine eher umstrittene, wenn auch notwendige Errungenschaft war die massive Umstrukturierung der gerichtlich angeordneten Schuldenzahlungen der Regierung („precatórios“) im Jahr 2021.

Kurzfristige Volatilität, aber positive Aussichten für Anfang 2023

Eine gewisse Vorsicht ist angebracht, da die Volatilität bis zur Stichwahl Ende Oktober voraussichtlich zunehmen wird. Die jüngst verbesserten Haushalts-, Inflations- und Wirtschaftsaussichten dürften jedoch in den ersten Monaten des Jahres 2023 für Rückenwind sorgen. Dies könnte sich natürlich ändern, wenn die Volkswirtschaften der Industrieländer eine harte Landung erleben, was globale Anleger in den US-Dollar als sicheren Hafen treiben würde. Auf brasilianischer Ebene verfolgen wir aufmerksam den aktuellen Rückgang der Inflation und wir beobachten, ob sich die Steuereinnahmen weiterhin in einem Schuldenabbau des öffentlichen Sektors niederschlagen und ob tatsächlich ausländische Anleger in großem Umfang in brasilianische Vermögenswerte zurückkehren, sobald sich die globale Marktstimmung verbessert.

 

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