In keinem Land der Erde wird mehr Goldschmuck gekauft als in Indien. Im Herbst, wenn die indische Hochzeitssaison bevorsteht und wieder Unmengen Gold verschenkt werden, sehen viele Ratgeber daher einen guten Zeitpunkt für einen Goldkauf. Aber was ist tatsächlich dran an diesem Mythos?

Aktuelle Markteinschätzung von Önder Çiftçi, CEO der Ophirum Group

Indien ist ein Land mit vielen Superlativen. Es ist nicht nur mit rund 1,8 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Erde, die größte Demokratie der Welt und ein Land enormer Gegensätze. Es ist auch ein Land der besonderen Hochzeitskultur. Eine Hochzeit ist für ein Brautpaar der Höhepunkt ihres Lebens. Hinduistische Hochzeiten sind opulent: Nicht selten feiern tausend und mehr Gäste oft über mehrere Tage – und dabei wird die Braut traditionell mit reichlich Gold beschenkt und behängt. Gold ist hier nicht nur Mitgift und finanzielle Absicherung, es ist auch Statussymbol und Glücksbringer. Wohl auch deswegen wird in keinem Land so viel Goldschmuck gekauft wie in Indien.

Vor Beginn der Hochzeitssaison, die im November oder Dezember beginnt und bis in den Februar andauert, häufen sich daher von vielen Seiten die Empfehlungen zum Goldkauf. Käufer sollen so von einem schnellen Anstieg des Goldpreises profitieren. Aber stimmt das auch? Ist die indische Hochzeitssaison für Anleger eine sichere Chance auf eine Wertsteigerung ihres Goldes?

Viele Faktoren bewegen den Goldpreis

Rückblickend weist Gold im vierten Quartal tatsächlich häufig einen Preisanstieg auf.  Beispielsweise kam es in den Jahren 2018, 2019 und 2022 zu signifikanten Aufwärtstrends der Goldnotierung. Doch wer glaubt, dass diese Entwicklungen der indischen Hochzeitssaison geschuldet sind, irrt.

Weltweit wird Gold aus allerlei Motiven und zu verschiedenen Anlässen gekauft. Gegen einen speziellen Einfluss der indischen Hochzeitssaison spricht etwa, dass die Inder auch zu Feiertagen wie dem Lichterfest Diwali im November oder bei anderen Familienfeiern gerne Gold verschenken. Und auch Inder achten sehr auf den Preis, wenn sie Gold kaufen. Zum Beispiel legte 2017 die Goldschmuck-Nachfrage in Indien schon im zweiten Quartal um 41 Prozent zu, weil Indien ab Juli 2017 die Steuern auf Goldkäufe deutlich anhob. Viele Inder hatten ihre Goldkäufe daher vorgezogen. Außerdem tätigen indische Familien die Goldschmuckkäufe für die Hochzeit ihrer Kinder oft über viele Jahre, häufig beginnen sie damit unmittelbar nach der Geburt. Die Goldschmiede wiederum kaufen das Gold für die Herstellung ihrer filigranen Armreifen oder Goldringe auch nicht erst zu Beginn der Hochzeitssaison, sondern deutlich früher.

Wechselkurse haben großen Einfluss auf die Goldnachfrage

Es ist also durchaus zweifelhaft, dass allein Hochzeiten in Indien regelmäßig eine herbstliche Goldpreis-Rally auslösen – zumal diese Sonderkonjunktur auch für Goldinvestoren aus anderen Ländern keineswegs überraschend und einmalig ist. Spekulanten dürften den absehbaren Anstieg in der Goldnachfrage also ebenso regelmäßig schon deutlich früher einpreisen.

Darüber hinaus spielen – und das ist weitaus entscheidender – zahlreiche weitere Faktoren eine bedeutende Rolle für die Entwicklung des Goldpreises. So haben etwa bedeutende Nachfrager außerhalb Indiens ebenfalls großen Einfluss auf den Goldpreis. Beispielsweise treten schon seit Jahren die Notenbanken von Russland und China als große Goldkäufer auf und können den Preis bewegen. Beide Länder kaufen regelmäßig tonnenweise Gold, um ihre Goldreserven aufzustocken. Nicht zuletzt hängt der Goldpreis auch maßgeblich vom Wechselkurs des US-Dollar ab: Fällt der Dollar, gewinnt das Edelmetall für Investoren aus dem Nicht-Dollar-Raum an Attraktivität – und umgekehrt. Schließlich wird das Edelmetall rund um den Globus fast ausschließlich in Dollar gehandelt.

Daneben spielen auch die Zinsen für Investmentalternativen, die Entwicklung der Förderkosten bei den Goldproduzenten sowie die Inflation eine Rolle auf dem Goldmarkt. Gold dient Anlegern häufig als Krisenwährung und -versicherung. So legte beim rasanten Anstieg der Inflationsraten seit Sommer 2022 auch der Goldpreis deutlich zu, weil sich Anleger gegen den schnellen Kaufkraftverlust ihres Papiergeldes schützen wollten. Und generell gilt Gold noch immer als sicherer Hafen in Krisenzeiten, was zu Beginn der Corona-Pandemie und nach Ausbruch des Ukrainekriegs auch deutlich zu beobachten war.

Wie sich die Goldschmuckverkäufe in Indien entwickeln, erfahren Investoren zudem immer erst mit zeitlichem Abstand – und zwar in der Regel erst dann, wenn der World Gold Council, der Branchenweltverband der Goldindustrie, Monate später Zahlen dazu veröffentlicht. Der Goldpreis kann daher gar nicht unmittelbar auf die Nachfrageentwicklung während der Hochzeitssaison reagieren. Eine zuverlässige Prognose oder gar Echtzeitbetrachtung der Nachfrageentwicklung in Indien ist somit ohne direkte Einblicke vor Ort kaum möglich.

Kurzfristwetten auf den Goldpreis besser vermeiden

Anleger sollten der indischen Hochzeitssaison daher nicht zu viel Bedeutung beimessen und sich schon gar nicht auf einen turnusmäßigen Anstieg des Goldpreises verlassen. Sie sollten Gold viemehr als das sehen, was es ist: ein ideales Vehikel zur Wertaufbewahrung und zum Erhalt der Kaufkraft, das selbst bei einem Zusammenbruch einer Währung seinem Besitzer die Zahlungsfähigkeit erhält. Deshalb ist es vor allem als langfristiges Investment und dauerhafter Krisenschutz sinnvoll. Das sehen auch die Inder so: Bei einer Hochzeit geben viele Mütter ihren seit der eigenen Hochzeit angesammelten Goldschatz an die frisch vermählte Tochter weiter, um sie für den Fall abzusichern, dass sie ihren Mann verlieren. Dass Gold auch noch Glück bringen soll, spielt dabei nur eine Nebenrolle.

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