Kommentar von Mobeen Tahir, Associate Director, Research, WisdomTree

 

Parallel-Universen auf ein und demselben Straße

Seit Jahresbeginn fast 11 Prozent Gesamtrendite. Die Stimmung bei Anlegern in den techlastigen NASDAQ-Composite-Index ist heiter und 2020 bislang ein großartiges Jahr. Das Leben an der Wall Street verläuft entsprechend gut. Bei anderen Anlegern, deren Vermögen auf den S&P500-Index ausgerichtet ist, herrscht zwar etwas mehr Nervosität, weil deren Renditen nicht so überragend ausfielen. Schlaflose Nächte haben Sie dennoch nicht, denn sie sehen, dass die Kurve ihres Index schnell ansteigt.

In der Realwirtschaft gingen im April 20 Millionen Arbeitsplätze verloren, und im Mai wurden nur 2,8 Millionen wieder zurückgewonnen. Nach den jüngsten Daten vom Juni liegt die Arbeitslosenquote in den USA jetzt bei 13,3 Prozent, im Februar lag die Quote noch bei 3,5 Prozent. Die US-Wirtschaft schrumpfte nach revidierten Schätzungen im ersten Quartal um annualisierte 5 Prozent. Dann kam es zu den Lockdowns, die alle Aktivitäten zum Stillstand brachten. Die Wachstumszahlen für das zweite Quartal werden dementsprechend besorgniserregender sein. Der erwähnte Zuwachs von 2,8 Millionen Arbeitsplätzen im Mai wurde an der Wall Street weithin gefeiert, während man andernorts auf Konjunkturprogramme von der Regierung wartete, um das Essen auf den Tisch bringen zu können.

Aktienmärkte und Realwirtschaft – diese beiden Universen waren in der Vergangenheit eng miteinander verbunden. Jetzt scheinen für beide unterschiedliche Realitäten zu gelten. Aktienkurse prognostizieren zukünftige Aktivitäten. Dies hängt stark von der Verfassung der zugrunde liegenden Wirtschaft ab. Wie sich die Aktienrenditen in der zweiten Hälfte dieses Jahres entwickeln werden, hängt von dieser Schlüsselfrage ab: Ist der Markt über sich selbst hinausgewachsen, oder prognostizieren die Aktienkurse richtig, was als eine schnellere als erwartete Erholung der Wirtschaftstätigkeit enden könnte?

Die Wirtschaft dürfte viel Arbeit vor sich haben, wenn die Aktienmärkte Recht haben. Noch nie waren die beiden Welten seit der globalen Finanzkrise so weit voneinander entfernt. Was ist die Ursache dafür und was sollten Anleger angesichts dieser neuen Verhältnisse tun?

Wo steht die US-Notenbank Fed? Auf der Seite der Realwirtschaft oder der Aktienmärkte? 

Nach dem heftigen Crash Mitte März, als die Coronavirus-Pandemie die Märkte stärker in Mitleidenschaft zog, kam es zu einer starken Erholung der Aktienmärkte. Viele Investoren haben die Baisse “gekauft” und damit den Märkten geholfen, sich zu drehen und ein positives Momentum aufzubauen. Die Märkte fanden Trost in den Wirtschaftsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Zentralbanken auf der ganzen Welt prognostizierten schnell eine starke Erholung für 2021.

Den heiligen Gral jedoch stellte die Intervention der US-Notenbank (Fed) und anderer Zentralbanken auf der ganzen Welt dar. Ein monetärer Stimulus auf die Realwirtschaft wirkt – wenn überhaupt – nicht unmittelbar. Wachstum entsteht, wenn die Menschen Geld ausgeben. Aber diese halten sich in Zeiten erhöhter Unsicherheit zurück. Wenn die Beschäftigungssituation einer Person auf der Kippe steht, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich ein neues Auto oder Haus kaufen wird – selbst wenn die Zinsen niedrig sind. Ein monetärer Stimulus führt jedoch zu einer sofortigen Liquiditätsspritze für die Finanzmärkte. Erhöhen Anleger jedoch das Risiko in ihren Portfolios, indem sie Aktien kaufen, weil diese attraktiv sind oder weil “es keine Alternative gibt”? Wenn sicherere Alternativen keine oder sogar negative Renditen aufweisen, sind die Anleger dann gezwungen, mehr Risiko einzugehen?

Denken Sie daran, dass das Verhältnis von Terminkurs zu Gewinn das Verhältnis zwischen dem heutigen Kurs einer Aktie und dem erwarteten Gewinn im nächsten Jahr ist. Versierte Anleger hinterfragen die Nützlichkeit dieser Kennzahl vor allem dann kritisch, wenn die erwarteten Gewinne derart ungewiss sind. Aber genau das ist der Punkt. Eine ungewisse Ertragslage würde eine vernünftigere Bewertung in den Preis einfließen lassen.

In den 1970er und 1980er Jahren, als die Fed-Zinssätze zweistellig waren, lag das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) für US-Aktien oft im einstelligen Bereich. Im Laufe der Zeit führten die Geldmengenexpansion der Fed und der Kauf von Vermögenswerten zu einem Rückgang der Zinssätze, was die Risikobereitschaft der Anleger erhöhte und die Aktienbewertungen in die Höhe trieb. Dies war allgemein ein stetiger Prozess bis zum laufenden Jahr, denn sowohl der Umfang der Bilanz der Fed als auch die Aktienbewertungen stiegen stark an.

Nun ist der Preis einer Aktie der Gegenwartswert, den Investoren künftigen Cashflows für die Dauer des Bestehens des Unternehmens beimessen. Aber hier liegt der Kern der Diskussion. Diese Unternehmen müssen auch nach Überwindung der Krise weiter bestehen. Wie Buchhalter sagen würden, braucht es ein “going concern”, ein gut gehendes Geschäft. Kluges Investieren erkennt die Risiken. Was die Risiken verdeckt, ist irrationaler Übermut.

Wer die Risiken ignoriert, lässt sie nicht verschwinden

Am Donnerstag, 11. Juni, fiel der S&P-500-Index um rund sechs Prozent, als der von der Fed präsentierte düstere Wirtschaftsausblick die Märkte überraschte. Der CBOE-Volatilitätsindex (VIX) stieg am selben Tag von 27 auf fast 44, als die Anleger in Scharen Schutz suchten. Am 16. Juni legten die Märkte wieder zu, als die Fed ihre Entscheidung zum Aufkauf von Unternehmensanleihen bekräftigte. Die “Fed Put” kam ins Spiel – und setzte damit erneut eine Preisuntergrenze, von der sie sich wieder erholen konnten. Die zugrunde liegende wirtschaftliche Realität blieb unverändert.

Eine ganze Reihe von Risiken steht am Horizont, während sich die Märkte gleichzeitig nach vorne bewegen: Eine zweite Welle der Pandemie könnte die Regierungen zwingen, den Lockdown wieder zu verschärfen; zunehmende Konkurse könnten das Vertrauen der Unternehmen beeinträchtigen; verlorene Arbeitsplätze können dann vielleicht nicht wiederhergestellt werden; und leider könnte sich die U-förmige wirtschaftliche Erholung in einen „Nike-Swoosh“ bzw. ein “W” verwandeln. Nicht zu vergessen sind zudem die Handelskriege, die Märkte und die Weltwirtschaft zwei Jahre lang vor Ausbruch der Pandemie geplagt haben. Angesichts der erneuten Spannungen zwischen den USA und China in jüngster Zeit im Zusammenhang mit dem Sicherheitsgesetz für Hongkong ist das Problem noch lange nicht gelöst.

Ein klügerer Ansatz zum Umgang mit den Risiken

Ein defensiver Ansatz könnte dazu beitragen, die Risiken zu bewältigen, die wir derzeit an den Märkten sehen. Dies bedeutet nicht, dass wir auf potenzielle Aufwärtsgewinne verzichten müssen. Defensiv zu sein ist vielmehr gleichbedeutend mit einem ausgewogenen Investitionsansatz. Es bedeutet, die Risiken zu erkennen und eine Widerstandsfähigkeit des Portfolios aufzubauen, um im Laufe der Zeit ein besseres risikobereinigtes Ergebnis zu erzielen. Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu haben, was in der Realwirtschaft passiert. Es geht darum, ein Portfolio aufzubauen, das Schocks standhält. Beispielsweise dann, wenn eine Zentralbank das Offensichtliche sagt, so wie die Fed mit ihrer Aussage, dass die anhaltende globale Pandemie wirtschaftliche Herausforderungen schaffen wird.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, defensive Portfolios aufzubauen. Wir wissen, wie wichtig es ist, dies auch umzusetzen. Deshalb widmen wir einen ganzen Abschnitt auf unserer Website ein Framework für defensive Assets. Autor Pierre Debru zeigt zu dieser Thematik Prinzipien auf, die für den Aufbau robusterer Portfolios erforderlich sind.

 

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