Ein Trilemma, geeignet, neue Impulse im Ordnungsrecht des Versicherungsvertriebs zu setzen

Beitrag von Oliver Timmermann, Rechtsanwalt – Versicherungsrecht  

Gewerberecht als öffentliches Wirtschaftsverwaltungsrecht enthält auch Ordnungsrecht. Allein sind die Zuständigkeiten dieses Sonderpolizeirechts nicht immer eindeutig. Neben der sachnahen IHK kamen bislang für Aufgaben des Polizeirechtes die  Gewerbeordnungsbehörden und – da der Schutz der „gesamten Rechtsordnung“ ein Rechtsgut ist, das der Generalklausel des Polizeirechts unterliegt –subsidiär auch die allgemeinen Ordnungsbehörden in Betracht. Neue Impulse dürfte diese verwaltungsrechtliche Spezialmaterie durch das VerbandssanktionenG erfahren. Die Staatsanwaltschaft wird im Rahmen ihrer Entscheidung, Ermittlungen aufzunehmen, Einblick fordern, ob ein Unternehmen Compliance-Maßnahmen ergriff. Für den Versicherungsvertrieb bedeutet die Umsetzung des VerbandssanktionenG eine Zäsur. Die Zurückhaltung des Ordnungswidrigkeitenrechts würde durch „forschere“ staatsanwaltschaftliche Ermittlungen abgelöst. Der Beitrag will einen Überblick über die opaken Zuständigkeitsregeln des aktuellen Gewerbeordnungsrechts geben, des Weiteren aufzeigen, dass die Umsetzung des Unternehmensstrafrechts nicht vom Tisch ist, sondern mit einer Umsetzung alsbald gerechnet werden muss. Deshalb ist auf Konsequenzen hinzuweisen, die für den Vertrieb nötig erscheinen. Der Aufsatz endet mit einem bilanzierenden Ausblick.

I.) Ordnungsrecht im Versicherungsvertrieb bisher

Es mag wie eine rhetorische Übertreibung klingen, den Maklern auf irgendeinem Rechtsgebiet „rosige Zeiten“ nachsagen zu wollen. Sorgen nicht EU-Richtlinien1 und neue Auslegungsergebnisse aus der Rechtsprechung2 allen Orten dafür, dass die Regulierung immer stärker zupackt und stellt das Richterrecht zu neuralgischen Punkten im Vertrieb – wie z.B. die „ewigen“ Themen zum Buchauszug3 oder Ausgleichsanspruch4 – nicht immer engmaschigere Anforderungen? Von der weiten Haftung, die den Makler anlässlich einer Beratung trifft, besser ganz zu schweigen.5 Doch ein „gallisches Dorf“ bot den Vermittlern bislang relativen Schutz vor staatlicher Drangsal: das Ordnungsrecht. Gewiss, bekannt sind der Erlaubnis-Widerruf gem. § 34d Abs. 5 GewO i. V. m. § 49 VwVfG bei erwiesener „Unzuverlässigkeit“ oder Verhängung eines Bußgeldes gem. § 144 Abs. 2 Nr. 7c GewO wegen nicht geleisteter Weiterbildung durch die IHK. Doch ein großer Vorteil des Maklers – auch wenn er diesen zumeist gar nicht wahrnahm – bestand darin, dass der IHK im Gewerbe-Organisationsrecht eine Sonderrolle zukam und wegen des Grauschleiers, der die Zuständigkeitsverteilung bzgl. des Ordnungswidrigkeitenrechts umgab, die Gewerbeordnungsbehörden selten in Erscheinung traten.6 Ein Großteil der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten blieb schlicht auf der Strecke, da die IHK sich auf die Kontrolle der Erlaubnisvergabe- und Kontrolle konzentrierte und die Gewerbeordnungsbehörde – grundsätzlich zuständig für die Wirtschaftsüberwachung i.w. S. – im Zweifel wiederum auf die „größere Sachnähe“ der IHK verwies. Dieser „blinde Fleck“ kann bei einer neuen Gesetzesinitiative zum VerbandssanktionenG ein jähes Ende finden. Den Vermittlern wird dann nämlich plötzlich seitens staatlicher Ermittlungsbehörden Ungemach völlig anderer Qualität ins Haus stehen.

II.) Änderungstendenzen

1.) Ordnungswidrigkeiten-Zuständigkeits-Wirrwarr

Durch die ausdrückliche Bestimmung in § 1 Abs. 1 S. 1 IHKG sind die Industrie- und Handels-Kammern für die Erlaubniserteilung zuständig. Dies war im Jahr 2007 eine grundlegende Neuerung in der GewO, da grundsätzlich alle anderen dort aufgestellten Erlaubnispflichten in der unmittelbaren Staatsverwaltung von den Gewerbeämtern vollzogen werden.7 Die IHKs sind zuständig für die Erteilung und in der Folge (als actus contrarius) auch für Rücknahme und Widerruf einer Erlaubnis; dies gilt entsprechend auch für Erlaubnisbefreiungen.8 Bereits hinsichtlich ihrer Zuständigkeit für die Verhängung von Bußgeldern gegenüber Versicherungsvermittlern und Maßnahmen nach § 15 Abs. 2 sowie § 35 GewO herrscht dagegen föderale Vielfalt.9 In der Regel sind für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten – außer in Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, wo dies tatsächlich auch in die sachliche Zuständigkeit der IHK fällt – abwechselnd mal die Gewerbeämter, Ordnungsämter, das Bezirksamt oder die untere Verwaltungsbehörde (Landkreis oder kreisfreie Stadt) zuständig. Auch nachdem aufgrund der Dienstleistungs-Richtlinie 2006/123/EG die Frage diskutiert wurde, im Interesse der Verwaltungsvereinfachung und Effizienz einen „einheitlichen Ansprechpartner“ zu installieren und wegen der Wirtschaftsnähe hierfür die IHK zu betrauen, brachte dies hinsichtlich des föderalen Flickenteppichs keine wirkliche Änderung.10

2.) Unternehmensverfolgung nach § 30, 130 OwiG

Einzig im Wege des Ordnungswidrigkeitenrechts besteht derzeit in Deutschland die Möglichkeit, auch gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen (also Unternehmen) vorzugehen und ein Bußgeld nach § 30 Abs. 1 OWiG zu verhängen, sofern deren Repräsentanten (Organe, Vorstände, Geschäftsführer, Vertreter oder sonstige Leitungspersonen) eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen haben. Neben diese originäre Organ- oder Vertreterhaftung tritt bekanntlich die Haftung für Aufsichtspflichtverletzungen aus § 130 Abs. 1 OWiG, welche die wichtigste Bezugstat für eine Geldbuße nach § 30 Abs. 1 OWiG darstellt.11 Dem Grunde nach erkennt das deutsche Recht damit eine Sanktionsfähigkeit von Verbänden bereits an, die auf einem Modell von Repräsentation und Zurechnung beruht, das demjenigen einer Vielzahl kontinentaleuropäischer Rechtsordnungen entspricht. Es fußt auf dem Grundsatz, dass juristische Personen nur für eigenes Verhalten straf- bzw. bußgeldrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.

Dieses dem Haftungsregime von § 30 OWiG zugrundeliegende Zurechnungsmodell, das sich bereits seit Jahrzehnten nicht unerheblicher Kritik, insbesondere mit Blick auf den strafrechtlichen Schuldgrundsatz, 12 ausgesetzt sieht, ist letztlich Konsequenz der organschaftlichen Struktur juristischer Personen13, die zwar Träger von Rechten und Pflichten sein können, dafür aber auf Organe und Vertreter angewiesen sind. Da eine juristische Person oder ein Verband nur durch Organe und Vertreter Handlungsfähigkeit erlangt, kann für ein strafrechtlich relevantes Verhalten des Verbandes auch nur auf diese abgestellt werden. Dies führt dazu, dass delinquentes Verhalten eines berufenen Organs oder Vertreters in einem delinquenten Verhalten des Verbandes insgesamt mündet, für das dieser als eigenes rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten haften kann. Der juristischen Person wird also das Handeln seiner Organe und Vertreter als eigenes „zugerechnet“. Eines Rückgriffs auf die Grundsätze der klassischen Drittzurechnung, wie z.B. im Rahmen der zivilrechtlichen Stellvertretung,14 bedarf es für die Legitimation der Haftung bei § 30 OWiG damit nicht.15 Geht man von der rechtlichen Zulässigkeit der Begründung einer solchen Verbandshaftung über das Zurechnungsmodell16 aus, so ist die organschaftliche Verbandstäterschaft im deutschen Recht bereits kodifiziert, wenn bislang freilich nur für den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts. Nahegelegt wurde ein VerbandsstrafR bereits in einem Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 1966 im sog. Bertelsmann-Lesering-Verfahren.17 Dort heißt es wörtlich: „Die Bestrafung juristischer Personen ist dem geltenden deutschen Rechtssystem nicht fremd. […] Die Anwendung strafrechtlicher Grundsätze ist also nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn das Rechtssubjekt eine juristische Person ist […]. Die juristische Person ist als solche nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein.“ Nach langer Diskussion18 soll das VerbandssanktionenG hier Abhilfe schaffen und das deutsche Recht endlich internationalen Standards anpassen.19

III.) VerbandssanktionenG nicht vom Tisch

Der Entwurf des Verbandssanktionsgesetz ist mittlerweile Geschichte. Er war Bestandteil des „Gesetzes zur Stärkung der Integrität der Wirtschaft“ und sollte Straftaten, die aus Verbänden heraus begangen werden, angemessen sanktionieren.20 Bereits im Koalitionsvertrag der letzten Bundesregierung war ein Gesetz zur Verbandssanktion vorgesehen. Es folgten zwei Referentenentwürfe sowie ein Regierungsentwurf und viel Kritik21 in der Anhörungsphase und im Bundesrat. 22 Zum Einbringen in den Bundestag gem. Art. 77 GG kam es nicht mehr. Die Koalition konnte sich über einige Punkte des Gesetzesvorhabens bis zum Schluss nicht einigen. In der Folge verfiel der Gesetzesentwurf gem. des aus Art. 29 Abs. 1 S. 2 GG abgeleiteten Grundsatzes der Diskontinuität des letzten Bundestags.23 Jedoch spricht vieles dafür, dass es einen neuen Anlauf geben wird.24 Angeführt werden hierfür unter anderem der internationale Druck, die weitere Zunahme von Unternehmensskandalen wie Wirecard oder der Dieselabgas-Skandal.25 Auch aus dem Wortlaut des Koalitionsvertrags der neuen Ampel-Koalition kann allerdings ein Arbeitsauftrag herausgelesen werden.26

1.) Kontinuität mühselig diskutierter Standards

Wird es aber eine Neuauflage dieses Gesetzesvorhabens geben, ist die Prognose nicht abwegig, dass diese an geleistete Vorarbeit des nun (vorläufig) in Diskontinuität geratenen Entwurfs der Vorgänger-Regierung anknüpfen wird, auch wenn das Justiz-Ressort mittlerweile eine andere politische Farbe trägt. Die dogmatischen Grabenkämpfe (unter anderem Schuldprinzip, Bestimmtheitsgrundsatz, warum keine Ausweitung des Ordnungswidrigkeitenrechts? etc.)27 sind in Diskurs- Kreiseln genug erörtert worden, so dass der Primat der Politik im Falle eines neuen Anlaufs gewillt sein wird, bei dem Unternehmensstrafrecht endlich Realitäten zu schaffen.

2.) Ordnungs- und Polizeirecht versus Strafrecht

Polizeirechtliche Gefahrenabwehr, die einen Schaden präventiv erst gar nicht eintreten lässt, ist dem repressiven Straf- und Strafverfahrensrecht, das einen realisierten Schaden voraussetzt, heutzutage überlegen, weil die Verhinderung einer Rechtsgutsverletzung einfach die plausiblere Form der Sicherheitsgewährleistung ist.28 Gleichwohl ist in der polizeilichen Praxis der Kriminalitätsbekämpfung die Sichtweise der Kriminalisten dominant, die in ihrer Fixierung auf das Strafund Strafverfahrensrecht die Möglichkeiten des Polizeirechts mit seinen neuen Befugnissen zur vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung nur dann nutzen, wenn die Strafprozessordnung defizitär ist, wenn etwa polizeiliche Aufklärungsverfahren als Notnagel für fehlende strafprozessuale Vorfeldermittlungen in Anspruch genommen werden. 29 Ein Interventionsstrafrecht als neuer Typus des Strafrechts will aber selbst – wie das Polizeirecht – Straftaten verhindern.

Das erfolgt immaterialen Strafrecht bereits seit langemdurch Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte, wie die §§ 129 ff. und §§ 89a ff. StGB, die als Vorfelddelikte keine Rechtsgutsverletzung mehr voraussetzen und schon vollendet sein können, bevor der Täter die Phase des Versuchs eines Verletzungsdelikts erreicht hat.30 Das traditionelle Verständnis, nachdem sich Polizei- und Strafrecht einerseits anhand ihrer Funktion (präventiv/repressiv) und andererseits anhand des Vorliegens eines Tatverdachts unterscheiden, ist damit ins Wanken geraten.

Die aktuelle Entwicklung hin zu einem gesteigerten Präventionsbedürfnis, die sich auf einer rechtstheoretischen, materiell-rechtlichen, prozessrechtlichen und polizeirechtlichen Ebene des Strafjustizsystems offenbart, schafft eine Veränderung beider Rechtsgebiete. Der modernen strafrechtlichen Konzipierung liegen aufgrund des verstärkten gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses gehäuft gefahrenabwehrende Zwecke zugrunde, wobei der sich ins Strafrecht drängende Präventions-Gedanke die Grenze zwischen Polizei- und Strafrecht verwischt.31 Gleichsam gewinnt das Polizeirecht im Rahmen der Verbrechensprophylaxe an Bedeutung. Für die juristische Einordnung des „Predictive Policing“ bedeutet dies, dass entsprechende Prognosetools als Mittel der Gefahrenabwehr grundsätzlich sowohl im Polizeirecht als auch in einer Strafverfolgung mit Präventionsfunktion zu verorten sind.

3.) Allgemeiner Trend zur Prozeduralisierung

Das Ordnungsrecht folgt damit einem allgemeinen Trend. Wo die liberale formal-rationale Rechtskonzeption das Recht als Instrument der Absicherung einzelner gesellschaftlicher Lebens- und Handlungsbereiche verstanden und Interventionen in diese Bereiche dementsprechend abgelehnt hat, wurde für das material-rationale Recht des Wohlfahrtsstaates der 70-er und 80-er die Idee der Intervention prägend, indem einzelne gesellschaftliche Lebens- und Handlungsbereiche durch das Recht material gestaltet werden sollten.32 Im Risiko-Staat dieser Tage ist man jedoch auch darüber hinaus. Dem Staat wurde − verfassungsrechtlich gestützt auf grundrechtliche Schutzpflichten und ein damit korrespondierendes Grundrecht auf Sicherheit − die Aufgabe der Abschirmung von Risiken zugewiesen und er greift zur Erfüllung dieser Aufgabe vermehrt auf ein Sicherungsrecht zurück, das im Wesentlichen auf dem Gedanken der Prävention beruht. Das Präventionsstrafrecht der Risikogesellschaft33 manifestiert sich nicht allein auf der Rechtsfolgenseite von Strafnormen, sondern in Gestalt überindividueller Rechtsgüter und abstrakter Gefährdungsdelikte auch auf Tatbestandsseite, wobei das Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrecht sowie die Gesetze zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität als Beispiel benannt werden. 34 Die allgemeine Regulierung von Gewerberisiken würde also selbst in dieser abstrakten Form kein Novum mehr darstellen.

Das alles spricht dafür, dass auch in dem neuen VerbandssanktionenG die Verfolgung letztlich der Staatsanwaltschaft zufallen wird. Bei OWiG-Verfahren stehen in der Regel Personen und nicht das Unternehmen im Mittelpunkt. Folglich hat dieses auch keine Beschuldigten- oder Beteiligungs-Rechte. Ebenso wenig kann es durch Kooperation mit der Ermittlungsbehörde den Strafrahmen beeinflussen. Bereits gem. §§ 23, 24 VerSanG-E sollte die Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen zuständig sein und eine Ermittlungspflicht35 bestehen. Laut Gesetzesbegründung sollte sichergestellt werden, dass geltendes Recht gleichermaßen und regelmäßig angewendet wird.36 Für den Ausspruch von Ordnungswidrigkeiten waren zuvor Fachbehörden zuständig, sofern keine Straftat vorliegt, vgl. § 131 OWiG. Die Spezialisten der Ordnungsbehörden kennen sich in den Spezialgebieten (z.B. Hygiene, Emissionsschutz, Strahlenschutz, Gerwerbe etc.) i. d. R. besser aus als der Staatsanwalt, vgl. Argument der „größeren Sachnähe“. Missstände können zudem mittels modernen, informellen Verwaltungshandelns im Rahmen von Begehungen aufgezeigt und Lösungsmöglichkeiten auf Fachebene für komplexe Anforderungen im Einvernehmen gefunden werden. Doch ein förmliches Verfahren im Wege des Legalitätsprinzips schafft mehr Transparenz. Hinzutritt die Vorfeldinvestigations-Bereitschaft des modernen Strafrechts. Deshalb wird auch der kommende Gesetzgeber wieder auf diese Verfahrensart setzen und in Kauf nehmen, dass damit eine gewisse Entmachtung der Fachbehörden verbunden ist.

IV.) Konsequenzen für den Vermittler – Ergebnis

Laut Gesetzgeber war die Stärkung von Compliance-Maßnahmen bereits ein Ziel des VerSanG-E.37 Compliance-Maßnahmen sollen eine Verbandsverantwortlichkeit verhindern können. Diese wären die in § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E erwähnten „angemessenen Vorkehrungen“.

Zudem hätten diese als Auflage nach der Tat „zur Genugtuung“ vom Gericht gem. § 12 VerSanG-E, erteilt werden können und können somit zur Reduzierung der Sanktionen im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 5, 7 VerSanG-E führen.

Compliance-Maßnahmen entstammen der „behavioural economics“, mithin der Verhaltensökonomik,38 wie diese vorrangig der Tradition des amerikanischen Rechtskreises entspricht.39 Die Grundlage des USamerikanischen Compliance-Modells beruht auf dem Dreiklang Verbandsstrafe, Plea-Agreement40 und Compliance-Paper. Abgesehen von den Bedenken gegen eine Geldsanktion gegen juristische Personen, die nicht die tadelnswerten Führungskräfte, sondern unschuldige Mitarbeiter und Aktionäre trifft, ist aus der prozessualen Perspektive auch der Voluntarismus zur Kooperation mit den US-amerikanischen Verfolgungsbehörden in der Praxis der Compliance zu bedenken. Diese Kooperation, die einem Verzicht auf die eigene Verteidigung ähnelt, wird von dem US-Strafrechtssystem im Rahmen einer Unternehmenshaftung und Strafbemessungsrichtlinien durch Plea-Agreement und Deferred-Prosecution-Agreement (DPA)/Non-prosecution Agreement (NPA) stark gefördert.41 Dabei wird vereinbart, dass die Strafverfolgungsbehörde die Strafverfolgung einstellt oder aussetzt, wenn das betroffene Unternehmen der Zahlung einer Geldstrafe zustimmt und künftigen Missständen durch (neue) organisatorische Compliance- Maßnahmen vorbeugt. Dies führt nun zum Hauptproblemeines solchen Compliance-Modells: Es weicht in vielerlei Hinsicht von den Grundprinzipien traditioneller Strafrechtsdogmatik ab. Es wird nicht in der strafrechtlichen individuellen Verantwortlichkeit verankert, sondert gründet auf einen strafrechtlichen Pragmatismus der US-amerikanischen Kriminalpolitik. Dahinter steht die Tradition des Utilitarismus, während kontinental-europäisches Recht eher auf die Deontologie und Pflichten-Lehre Kants gesetzt hat.42

Man wird fragen können, ob diese Traditions-Zäsur wirklich „durchdacht“ ist, man wird ein Nachlaufen verhaltensökonomischer Grundsätze beklagen können, doch wird man kaum verhindern können, dass diese Maßstäbe bald auch für Vermittler gelten. Aus Sicht des Rational- Choice-Modells werden mittels Compliance Abwägungstatbestände geschaffen, die der Täter bei seiner Entscheidung berücksichtigen muss. Compliance-Maßnahmen sind konditionelle Programmierung, die Transaktionskosten bei der Tatbegehung erhöhen. Für den Staatsanwalt, der in der Regel keine fachliche Vorbefassung mit dem Vertriebsrecht hatte, werden die Compliance-Maßnahmen vermutlich aber das Kennzeichen sein, ob er bei diesem Vorgang „schärfer“ zupacken soll. Darauf hinzuweisen, wollte ich mit diesen Zeilen anfangen. Ein Denken allein in zivilrechtlichen Kategorien greift im Vertriebsrecht, auch im Versicherungs-Vertrieb43, mittlerweile zu kurz.

V.) Fazit

Der kurze Parforceritt durch das Gelände des Gewerbeordnungsrechtes hat gezeigt, dass eine Vielzahl von Faktoren anzeigen, dass es mit der relativen Ruhe in der Verfolgung der Ordnungswidrigkeiten für den Versicherungsvertrieb bald vorbei sein wird. Es mag noch dauern, ehe eine gewisse Klarheit über den theoretischen Überbau der Compliance hergestellt sein wird. Bislang speist diese aus erkenntnistheoretischer Sicht sich aus Quellen, die nur bedingten Einfluss auf das autarke44 System des Rechts beanspruchten. Doch wird im Zuge der neuen Einflussnahme der Staatsanwaltschaft das Erfordernis von angemessenen Compliance-Maßnahmen ganz handfeste Bedeutung erlangen: Die Güte der Umsetzung dieser Maßgaben, wird darüber entscheiden, ob die Strafverfolgungsbehörde zu Ermittlungen ausholen wird. Ist diese Entscheidung getroffen, können dabei – quasi als Beifang – auch nichtstrafrechts- aber doch ordnungswidrigkeitsrelevante Umstände zutage gefördert werden. Im Zuge dessen könnte sich dann das Räderwerk der sonst eher zurückhaltenden Gewerbeordnungsverwaltung durchaus herausgefordert sehen, verstärkte Aktivität zu entfalten.

1 Vgl. etwa die Transparenz-VO (EU) 2019/2088 oder die EU-Beratungs-VO (EU) 2021/1257.

2 Vgl. etwa zu den Anforderungen der Beratungsgrundlage OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.9.2021 – 6 U 82/20 – dazu Timmermann, ZVertriebsR 2022, 177 ff. oder zu den angemessenen Geheimhaltungsmaßnahmen nach dem GeschGehG, vgl. dazu etwa: LG Verden, Urt. v. 1.3.2021 – 9 O 34/20.

3 Vgl. etwa: OLG München, Urt. v. 31.7.2019 – 7 U 4012/17, ZVertriebsR 2019, 372 ff.

4 Vgl. etwa: OLG Hamburg, Urt. v. 19.5.2022 – 6 U 83/21 – sehr lehrreich auch zu den Merkmalen einer Statusabgrenzung zum „Kooperationsvertrag“.

5 Vgl. etwa: OLG Frankfurt, Urt. v. 13.5.2022 – 7 U 168/16; Timmermann, ZfV 2019, 701 ff.

6 Vgl. Stober/Eisenmenger, Öffentliches WirtschaftsR Besonderer Teil, 17. Aufl. 2019, § 45, S. 11 ff.

7 Vgl. Schönleitner, GewA 2007, 265 f.

8 Vgl. BT-Drs. 16/1935, S. 18.

9 Vgl. Übersicht: Schönleiter, in: Landmann/Rohmer/Schönleiter, GewO, Stand Sep. 2021, zu § 34d Rn. 279.

10 Vgl. Windorffer, DVBl 2006, 1210 ff.; Stober, WiVerw 2008, 139 ff.

11 Vgl. Rogall, in: Karlsruher Kommentar OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 Rn. 20. § 30 OWiG geht zurück auf die zur Schaffung einer einheitlichen Verbandsgeldbuße 1968 ins OWiG aufgenommene Regelung des § 26 a. F., vgl. zur historischen Entwicklung auch Rogall, in: Karlsruher Kommentar OWiG, 5. Aufl. 2018, Rn. 22 ff.

12 Vgl. Rostalski, NJW 2020, 2087 ff.

13 Vgl. Dannecker, NZWiSt 2012, 441 ff.; zum Streit der Vertreter- und Organtheorie: Klingbeil, ZfPW 2020, 150, 176 ff.

14 Vgl. wie vor: Klingbeil, ZfPW 2020, 150, 176 ff.

15 Vgl. Dannecker/Dannecker, NZWiSt 2016, 162 ff.

16 Vgl. Wohlers, NZWiSt 2018, 412 ff.

17 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.10.1966 – 2 BuV 506/63, BVerfGE 20, 323, 335 f.

18 Vgl. Gehring, NZWiSt 2022, 437 ff.

19 Vgl. Rotsch/Mutschler/Grobe, CCZ 2020, 169 ff.

20 Vgl. unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE /Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.html#:~:text=Juni%202020%20Gesetz%2 0zur%20St%C3%A4rkung,Ordnungswidrigkeiten%20(OWiG)%20geahndet%20w erden.

21 Vgl. Busekist/Izrailevych, CCZ 2021, 40 ff.

22 Vgl. Peukert/Sinn, Newsdienst Compliance, 2021, 230005.

23 Vgl. Trüg, NZWiSt 2022, 106 ff.

24 Vgl. Gehring, NZWiSt 2022, 437 ff.; Schweiger, LRZ 2022, Rn. 439, www.lrz.leg al/2022Rn439.

25 Vgl. Gehring, NZWiSt 2022, 437.

26 So jedenfalls Gehring, NZWiSt 2022, 437.

27 Vgl. etwa: IHK Braunschweig unter: https://www.ihk.de/braunschweig/berat ung-und-service/rechtsthemen/wirtschaftsrecht-von-a-bis-z/gesellschaftsre cht/kritik-an-geplantem-unternehmensstrafrecht-4934838; Wostry, Stellungnahme zu dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfa hren/Stellungnahmen/2020/Downloads/06122020_Stellungnahme_HHU_ RegE_Integritaet-Wirtschaft.pdf;jsessionid=EC12BE04F9B411783C88D6F6A 5B401CD.2_cid289?__blob=publicationFile&v=2.

28 Vgl. Kniesel, Kriminalitätsbekämpfung durch PolizeiR, 2022, S. 35 ff.; Gropp, in: Sinn/Gropp/Nagy (Hrsg.), Grenzen der Vorverlagerung in einem TatstrafR, 2011, S. 99 ff.; kritisch zur „Präventions-Euphorie“: Pollähne, Kriminalprognostik, 2011, S. 261 ff.

29 Vgl. Park, Wandel des klassischen PolizeiR zum neuen SicherheitsR, 2013, passim; hierzu: Ambs, in: Geppert/ Dehnke (Hrsg.), GS für Karlheinz Meyer, 2019, S. 7, 10 ff.

30 Vgl. etwa: Timmermann, StraFo 2007, 358 ff.

31 Zum sog. „predictive policing“ vgl. etwa: Pullen, in: Simmler, Smart criminal justice, 2021, S. 123 ff.

32 Zur Materialisierung vgl. Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung und Richterfreiheit, 2005, S. 25 ff.

33 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, 1986, passim; Neureiter, Die Risikogesellschaft von Ulrich Beck: Konzept und Kontext, 2015, passim.

34 Vgl. Eicker, Die Prozeduralisierung des StrafR, 2010, S. 12 ff.; S. 49 ff.

35 Vgl. § 24 VerSanG-E i. V. m. § 152 StPO das sog. „Legalitätsprinzip“.

36 Vgl. „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokum ente/RegE_Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.pdf;jsessionid=3820958A8CA C4BF0CC4621C0042FE591.2_cid334?__blob=publicationFile&v=2, S. 59. Timmermann, Versicherungsvertrieb: Ordnungswidrigkeit, Compliance und Verbandssanktion

37 Vgl. „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“, wie Fn. 37, dort S. 55.

38 Vgl. Klöhn, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg) in: Beitrag der Verhaltensökonomie (behavioural economics) zum Handels- und Wirtschaftsrecht, ZHR-Beiheft 75 (2011), S. 3 ff.; Möslein, Austrian Law Journal 2014, 135 ff.

39 Vgl. Navarro, StrafR und Criminal Compliance in philosophischer Perspektive, 2022, S. 28 ff., die Darstellungen zum Thema der Rechtsnatur und dem Überbau der CC fallen in der Unternehmensstrafrechtsliteratur schmal aus; es ist ein „unbestelltes Feld“, vgl. Rotsch, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, HdB WirtschaftsstrafR, 5. Aufl. 2019, S. 54, Rn. 41, der von „Bemühungen der theoretischen Fundierung“ spricht.

40 Vgl. Ransiek, ZIS 2008, 116 ff. m. w. N.

41 Vgl. Schlutz, Compliance Monitorships – Wie kann ein US-Instrumentarium den Alltag dt. Unternehmen bestimmen?, 2021, S. 75 ff.

42 Vgl. von der Pfordten, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg), HdB Rechtsphilosophie, 2017, I. E., S. 98 f. m. w. N.

43 Dem aber immerhin die Querelen des Kartellrechts erspart bleiben, vgl. Timmermann, Sonderausgabe proontra 2019, 28 ff.

44 Der Begriff der berühmt-berüchtigten Autopoiesis soll hier absichtlich einmal vermieden werden.

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