Die Medien haben auf die angekündigten Regulierungsmaßnahmen der chinesischen Regierung genauso stark reagiert wie die Aktienkurse.

 

Zudem kursieren Gerüchte über weitere Vorschriften, die sich auf weitere Branchen auswirken könnten. Einige interpretieren die Reformen als Angriff auf bestimmte Branchen, wie die sogenannte New Economy. Andere gehen sogar weiter und fürchten, China wird durch den Regulierungswahn „uninvestierbar“. Jasmine Kang, Portfoliomanagerin bei der internationalen Fondsgesellschaft Comgest, nimmt hier eine Markteinschätzung vor:

Vor dem Hintergrund gestörter globaler Lieferketten, steigender Inflationstendenzen sowie Regulierungsbemühungen der chinesischen Regierung wachsen zum aktuellen Zeitpunkt auch die Bedenken seitens der Anleger. Für uns kommt dieser plötzliche Stimmungsumschwung jedoch überraschend. Viele der neuen Regulierungen dürften nur begrenze Auswirkungen haben – auf Unternehmen aus den Bereichen Immobilien, Essenslieferservice und Internet. Prinzipiell sind die meisten Vorschriften aber nicht mehr als eine Wiederholung früherer Vorschriften, die von der Regierung und den staatlichen Medien seit Jahren angekündigt und sogar in den sozialen Medien diskutiert werden. Einzig wirklich stark betroffen sind die privaten Nachhilfeinstitute, die sogenannten After School Tutoring, kurz AST.

Bildung: Nachhilfeinstitute stark betroffen

Die Regulierungen für ASTs wurden bereits seit Anfang des Jahres erwartet, nachdem die Regierung begonnen hatte, den Druck auf die Studiengebühren zu verringern und den AST-Einrichtungen die Werbung zu verbieten. Die Regierung ist zunehmend der Ansicht, dass die hohen AST-Kosten negative sozioökonomische Auswirkungen haben: Sie verbessern nicht die Gesamtqualität der Bildung, sondern erhöhen den Zeit- und Kostendruck für Eltern und Kinder, senken die Geburtenrate und schaffen wirtschaftliche Hindernisse für die soziale Mobilität. Wir haben festgestellt, dass die Nachfrage nach Nachhilfeunterricht sehr hoch ist – ähnlich wie in Japan und Korea, angetrieben durch ein prüfungsbasiertes Bildungssystem und eine Kultur, die Bildung einen hohen Stellenwert zuschreibt. Unserer Einschätzung nach wird dieses sozioökonomische Dilemma weiter bestehen, die Nachhilfeindustrie wird schrumpfen, aber überleben und sich weiterentwickeln wird, während sie von der Regierung weiterhin überwacht sowie gegebenenfalls reformiert wird.

Vorhersehbare Reaktion auf sozioökonomische Probleme

Einige Experten interpretieren die jüngsten regulatorischen Maßnahmen als eine Art Bestrafung für chinesische Unternehmen, die in den USA börsennotiert sind – insbesondere angesichts der Struktur von Variable Interest Entities (VIEs), die Offshore-Notierungen in einigen Sektoren erleichtert und die eine Unternehmensstruktur repräsentiert, die die Grundlage für Notierungen in der chinesischen Tech-Branche bildet. Wir sehen auch, dass die Risiken für chinesische Unternehmen, die in den USA notiert sind, zunehmen, aber nicht aufgrund der VIE-Struktur. Denn die meisten der jüngsten regulatorischen Maßnahmen gelten unabhängig vom Ort der Börsennotierung und von der Unternehmensstruktur. Wir sind der Ansicht, dass sich das regulatorische Umfeld in China nicht wesentlich verändert hat. Die Regierung reagiert im Prinzip auf sozioökonomische Probleme – je größer die Branchen werden, desto größer auch die sozioökonomischen Probleme, die sie mit sich bringen. In der Vergangenheit gab es zahlreiche regulatorische Änderungen, die für andere Sektoren Einschränkungen mit sich gebracht haben. Der springende Punkt ist nun allerdings, dass größere Wachstumsunternehmen und Sektoren betroffen sind, welche häufig von ausländischen Investoren gehalten werden. Im Vergleich zu anderen Ländern, in denen die Verabschiedung neuer Gesetze und Vorschriften sehr öffentlich und langwierig verlaufen kann, erscheint uns der Prozess hier intransparenter – das bedeutet für Anleger, dass man sich noch intensiver damit auseinandersetzen sollte, um Risiken vorherzusehen. Wir erwarten, dass jene Unternehmen, die eine dynamische Managementstruktur aufweisen und in der Lage sind, auf die rasch verändernden Rahmenbedingungen zu reagieren, zu den langfristigen Gewinnern zählen werden.

China ist kein Einzelfall

Wenn wir das Gesamtbild betrachten, ist das, was gerade in China passiert, durchaus mit Aktivitäten in anderen Ländern vergleichbar. Medien weltweit berichten seit geraumer Zeit über die „nicht nachhaltigen Praktiken einiger Unternehmen in der sogenannten Gig Economy“ – womit vor allem gemeint ist, dass sie die Wirtschaftlichkeit über das Wohlergehen ihrer Lieferanten und Mitarbeiter stellen. Und Tech Unternehmen stehen auch in Europa und den USA in der Kritik, wobei sogar eine Zerschlagung der Unternehmen ins Spiel gebracht wird. Man denke hier nur an die Auseinandersetzung der Europäischen Union mit globalen bzw. US-amerikanischen Tech-Unternehmen zum Datenschutz.

Potential abseits der „New Economy“

Wir beobachten diese Regulierungsthemen schon sehr lange und in den letzten Jahren haben wir dadurch eine vorsichtigere Haltung eingenommen, was neue Geschäftsmodelle betrifft. Als wir beispielsweise den Essenslieferdienst Meituan analysierten, bereitete uns Sorge, dass die Rentabilität zulasten der Fahrer geht. Wir fragten uns, wie stabil das künftige Gewinnwachstum angesichts des sozialen Drucks, die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter zu verbessern, sein kann. Unser Fazit war: ziemlich unsicher. Es ist kein Ding der Unmöglichkeit, sich über solche Risikofaktoren Gedanken zu machen, vor allem, wenn man in einem kommunistischen oder zumindest sozialistischen Land investieren will. Aufgrund der Tatsache, dass ESG-Kriterien vollständig in den Investmentansatz von Comgest integriert sind, werden solche sozioökonomischen und politischen Risiken bereits zu Beginn unserer Analysen thematisiert. Wir sind uns der Regulierungsrisiken absolut bewusst – was jedoch nicht bedeutet, dass wir sie vollständig meiden. Wir versuchen jedoch, sie so gut wie möglich in unsere Investmententscheidungen einfließen zu lassen. In den letzten Jahren hat uns dies dazu veranlasst, über den chinesischen Internet-Sektor hinaus auch andere Branchen in Betracht zu ziehen, wie beispielsweise Möbelhersteller oder Unternehmen im Gesundheitswesen, die nicht annähernd unter „New Economy“ fallen.

 

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