In der BU-Versicherung gilt als berufsunfähig, wer zu mindestens 50% seine berufliche Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Doch bei der Fallanalyse des Versicherten lauern für Makler Haftungsfallen. Kann also auch bei unter 50%-iger Einschränkung ein Leistungsfall vorliegen?

Ein Artikel von Kathrin Pagel, Fachanwältin für Versicherungsrecht und Partnerin in der Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte PartG

Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte in einem außergewöhnlichen Fall über die Frage zu entscheiden, ob Berufsunfähigkeit vorliegt (BGH, Urteil vom 19.07.2017, Aktenzeichen IV ZR 535/15). Die Versicherungsnehmerin war in einer Rechtsanwaltskanzlei als Hauswirtschafterin vollschichtig dafür angestellt, die Kanzleiräume zu putzen, Mittagstisch für ca. 15–30 Personen zuzu­bereiten und Einkäufe zu erledigen. Nach einem Unfall – einem Treppensturz – war die Versicherungsnehmerin längere Zeit krankgeschrieben und aufgrund psychischer Probleme sowie Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden in der Folge in ärztlicher Behandlung. Daraufhin beantragte sie Berufsunfähigkeitsleistungen aus der bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung und machte geltend, dass sie zu mehr als 50% nicht mehr in der Lage sei, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben. Die Versicherungsnehmerin berief sich dazu darauf, dass sie aufgrund der erheblichen Rückenbeschwerden nicht mehr putzen, keine schweren Einkäufe mehr tragen und auch nicht mehrere Stunden täglich in der Küche Mahlzeiten zubereiten könne. Als Beschwerden gab sie eine somatoforme Schmerzstörung bzw. ein chronisches Schmerzsyndrom an. Infolgedessen könne sie lediglich drei Stunden am Tag als Haushaltshilfe leichte Helfertätigkeiten durchführen. Zuletzt war die Versicherungsnehmerin in einem Privathaushalt angestellt.

Versicherer lehnt Leistung ab

In den Bedingungen der bestehenden Berufsunfähigkeitszusatzversicherung der Versicherungsnehmerin findet sich folgende Definition der Berufsunfähigkeit nach § 2 Abs. 2 der Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BB-BUZ): „Ist die Person sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, außerstande gewesen, ihren Beruf oder – nach Maßgabe von Absatz 1 – eine andere Tätigkeit auszuüben, so gilt dieser Zustand von Beginn an als Berufsunfähigkeit.“ Nach § 1 Abs. 1 BB-BUZ erbringt der Versicherer Leistungen im Fall von mindestens 50%-iger Berufsunfähigkeit. Nachdem der Versicherer Leistungen unter der Behauptung, Berufsunfähigkeit läge nicht vor, abgelehnt hat, hatte die Versicherungsnehmerin Klage eingereicht.

Sachverständiger nimmt nur 20%-ige Einschränkung an

Im Laufe des Prozesses wurde ein unfallchirurgisch-orthopädisches Gutachten durch einen Sachverständigen angefertigt, der ein Halswirbel- und Lendenwirbelsäulensyndrom bestätigte und daher eine lediglich 20%-ige Funktionseinschränkung annahm. Zur Begründung führte der Sachverständige aus, dass zwar längerfristige Arbeiten mit gebeugtem Oberkörper und ähnlichen Zwangshaltungen nicht möglich seien, jedoch diese Tätigkeit nicht sechs Stunden täglich, sondern nur einen geringen Zeitraum im beschriebenen Tätigkeitsprofil eingenommen hätten. Zwar sei der Versicherungsnehmerin das Heben schwerer Lasten von mehr als 5–10 Kilogramm (kg) so nicht mehr möglich. Dies sei jedoch nur beim Einkaufen erforderlich. Hingegen sei ihr das Kochen und Putzen noch mit nur geringeren Beeinträchtigungen möglich.

BGH: Beurteilung muss Gesamttätigkeit berücksichtigen

Während das zuständige Berufungsgericht dieser Einschätzung des Sachverständigen noch gefolgt war, hat der BGH diese allerdings korrigiert. Zu beurteilen waren vorliegend nicht lediglich die Einzeltätigkeiten und deren zeitanteilige Beeinträchtigung, sondern vielmehr die gesamte berufliche Tätigkeit der Versicherungsnehmerin. Von dem Sachverständigen war diese nicht ausreichend gewürdigt worden. Auch wenn ein Großteil der Tätigkeiten, zu denen die Versicherungsnehmerin trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen grundsätzlich noch in der Lage war, auch einen Großteil ihres Arbeitstages einnahm, konnten von ihr grundlegende Tätigkeiten gerade nicht mehr ausgeübt werden. So war es ihre Aufgabe, vollständig und eigenständig für die Planung und Durchführung des Mittagessens zu sorgen und dafür auch einzukaufen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Tätigkeit war damit unter anderem, den wöchentlichen Großeinkauf für die Zubereitung von ca. 200 Mahlzeiten pro Woche durchzuführen. Zu erwerben waren viele Lebensmittel wie Milch, Kartoffeln, Reis und Mehl, die im Großmarkt nur in Großpackungen von mehr als 5–10 kg erhältlich waren. Kartoffeln konnten sogar nur sackweise ab 25 kg erworben werden. Diese Waren hatte sie einzukaufen und in die Kanzlei zu transportieren. Allein der Weg vom Fahrzeug über eine Treppe in den Keller war dabei etwa fünfzehn- bis zwanzigmal zurückzulegen.

Großeinkauf als untrennbarer Bestandteil der Tätigkeit

Diesen Großeinkauf hat der BGH als untrennbaren Bestandteil ihrer beruflichen Tätigkeit angesehen. Daher verbietet sich, so der BGH, eine rein zeitanteilige Betrachtung der Einzeltätigkeiten bei der Beurteilung, zu welchem Grad die Berufsunfähigkeit besteht. Eine Gesamtbetrachtung ist vorzunehmen. Selbst soweit nur dieser Teil ihrer beruflichen Tätigkeit betroffen wäre, da die schweren Lasten nicht mehr gehoben und Zwangshaltungen nicht mehr eingenommen werden konnten, war doch die Klägerin aufgrund der Einschränkungen in dieser essenziellen Tätigkeit auch nicht mehr in der Lage, ihre gesamte Tätigkeit auszuüben.

Fazit: kein Fall wie der andere

In der Praxis bedeutet dies, dass jeder Einzelfall genau überprüft werden muss. In der Praxis sieht kein Fall wie der andere aus. Die Leistungsfallbearbeitung in der Berufsunfähigkeitsversicherung beginnt schon mit der richtigen Fragestellung zum Lebenssachverhalt und ihrer entsprechenden Würdigung. Wichtige Weichen für die weitere Fallbearbeitung werden in der Praxis schon bei der Leistungsbeantragung gestellt. Nicht immer auf den ersten Blick erkennbare Hürden können jedoch mit Erfahrung gut überwunden werden.

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