Statt auf die Bürgerversicherung als Maximalforderung setzen Gegner des dualen Systems mittlerweile auf eine Politik der kleinen Schritte.

 

Timm Genett, Geschäftsführer Politik im PKV-Verband, spricht über die Herausforderungen für die PKV und zukünftige politische Diskussionen.

Herr Genett, was sind die Aufgaben der Politikabteilung im PKV-Verband?

Wir sind Ansprechpartner für Ministerien, Fraktionen, Bundes- und Landtagsabgeordnete zu allen Fragen, die die PKV betreffen. Dazu gehört, die komplexe Welt der PKV verständlich zu machen. Und natürlich müssen wir permanent die politische Erwartungshaltung in die Branche hinein vermitteln. Insofern haben wir eine Scharnierfunktion zwischen Parlament und Regierung einerseits und den Unternehmen der Branche andererseits.

Dabei bedienen wir uns der klassischen Instrumente des Monitoring und des Lobbying: Wir analysieren die politische Debatte und beobachten den Willensbildungsprozess möglichst schon vor dem Start der eigentlichen Gesetzgebung. Und wir entwickeln strategisch wie sachlich in Kooperation mit den Fachabteilungen die Positionen des PKV-Verbandes in Grundsatz- und Detailfragen des Gesundheitssystems. In diesem Kontext produzieren wir regelmäßig Inhalte zur Stärkung unserer Argumentationsbasis.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wir beschäftigen uns aktuell mit dem Vorurteil, dass Ärzte sich bevorzugt in städtischen Regionen niederlassen, weil es dort viele Privatversicherte gibt. Doch wenn man sich die Situation auf dem Land genauer ansieht, wird deutlich, dass gerade die Ärzte dort von der Privaten Krankenversicherung profitieren. Das haben wir in einem ersten Schritt mit unserem Regionalatlas für Bayern gezeigt. Die Berechnungen für weitere Bundesländer laufen bereits.

Grundsätzlich kümmern wir uns um jedes politisch für die PKV relevante Thema. Sei es die Entwicklung eines Tarifwechselleitfadens zur Stärkung der Wahlfreiheiten von Privatversicherten, sei es die Konzipierung der Stiftung Gesundheitswissen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz oder sei es die Gründung einer Abteilung für Prävention und Gesundheitsförderung, um unserer Rolle als Mitglied der Nationalen Präventionskonferenz gerecht zu werden.

Wie bewerten Sie die politischen Entwicklungen des vergangenen Jahres?

Das Jahr 2018 hat mit einer schwierigen Regierungsbildung begonnen. Die SPD hatte ja zunächst ausgeschlossen, sich an einer Regierung zu beteiligen. Nachdem aber die Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition gescheitert waren, war schnell klar, dass daran kein Weg vorbeiführte. Für diese Kehrtwende musste sie ihre Mitglieder gewinnen. Daher hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen mit der Union plötzlich auf andere Themen gesetzt als im Wahlkampf. Auf einmal wurde die Forderung nach einer Bürgerversicherung wieder laut, obwohl sie im Wahlkampf keine Rolle gespielt hatte.

Weiß die SPD nicht, was sie will?

Parteiensoziologisch betrachtet ist das Verhalten der SPD durchaus schlüssig: Solange sie sich im Wahlkampf befand, war sie gut beraten, das Thema Bürgerversicherung nicht in den Mittelpunkt zu rücken. Schließlich hatte sie die Wähler im Blick. Und da die Menschen in Deutschland allgemein sehr zufrieden mit ihrer medizinischen Versorgung sind, machte es wenig Sinn, sich für einen Systembruch einzusetzen. Später ging es aber eben nicht mehr um die Wähler, sondern um die eigenen Parteimitglieder. Und da ist die Bürgerversicherung ein integrationsstiftender Kitt. Insofern war es nicht verwunderlich, dass es in den Koalitionsverhandlungen eine Neugewichtung gegeben hat.

Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Denn die SPD hat inzwischen erkannt, dass eine Radikalreform mit einer Bürgerversicherung für alle ab einem bestimmten Stichtag nicht möglich ist. Die rechtlichen und technischen Hürden sind dafür unüberwindbar. Deshalb hat die Partei auf kleinere, überschaubare Projekte gesetzt und diese als Schritte zur Bürgerversicherung inszeniert. Das Ziel einer Bürgerversicherung bleibt dabei aber im Fokus.

Um welche Projekte handelt es sich dabei?

Zum einen geht es um die Einführung eines Arbeitgeberzuschusses für gesetzlich versicherte Beamte zu ihren Krankenversicherungsbeiträgen. Dieses Vorhaben treiben von der SPD mitregierte Länder seit einiger Zeit auf Landesebene voran. Natürlich hätte die Partei gern eine Regelung auf Bundesebene gehabt. Das scheiterte aber am Widerstand der Union. Die Koalitionsverhandlungen haben gezeigt, dass die Union die neue Strategie der SPD von Anfang an durchschaut hat.

Bedeutet die Änderung bei der Beamtenversorgung in den Ländern tatsächlich einen schleichenden Einstieg in eine Bürgerversicherung?

Die Bürgerversicherung ist zwar das Motiv für diese Änderungen, sie wird aber nicht das Ergebnis sein. Die Beamten entscheiden bei der Wahl der Krankenversicherung rationaler als der rot-rot-grüne Gesetzgeber sich das vorstellt. Die Kombination aus Beihilfe und Privater Krankenversicherung ist für die Beamten mit Blick auf Leistung und Preis unschlagbar.

Gibt es weitere Projekte in Richtung Bürgerversicherung?

Ja, die Angleichung der Gebühren in der ambulanten Versorgung, also der Gebührenordnung für Ärzte bei Privatpatienten und des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes bei gesetzlich Versicherten. Auch das sieht die SPD als Schritt in Richtung Bürgerversicherung. Im Koalitionsvertrag bekam sie eine Kommission, die sich mit der Reform der Gebührenordnungen beschäftigen soll. Ich werte das als politischen Kompromiss. Es bleibt abzuwarten, was die Analyse der Kommission ergibt. Daneben gibt es zwei weitere Themen, die die SPD immer wieder als Bürgerversicherung verkauft, obwohl sie damit nichts zu tun haben.

Welche sind das?

Das eine ist die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei den GKV-Beiträgen. Dieses Projekt hat Gesundheitsminister Jens Spahn ja ziemlich rasch umgesetzt. Das zweite ist eine Verkürzung der Wartezeiten für GKV-Mitglieder, Stichwort Terminservice- und Versorgungsgesetz. Das ist eine „Lösung“, die kein Mensch braucht, weil das GKV-System schon bisher mit durchweg akzeptablen Wartezeiten gut funktioniert hat. Das sieht der GKV-Spitzenverband im Übrigen genauso. Aber die SPD hat aus weltanschaulichen Gründen das Thema als angeblich riesiges Problem definiert. Und der Koalitionspartner hat diese Wahrnehmung angenommen und war schnell bereit, sich damit zu identifizieren.

Die Folge ist eine Gesetzgebung, die am Ende die Beitragszahler deutlich mehr kosten, das Hauptproblem bei den Wartezeiten gesetzlich Versicherter aber nicht beheben wird. Das ist nämlich die Tatsache, dass die Budgetierungslogik im GKV-System den Anreiz selbst schafft, Patienten am Ende eines Quartals auf das nächste Quartal zu vertrösten.

Was bedeutet diese Politik der kleinen Schritte für die PKV?

Im Koalitionsvertrag steht nichts, was der PKV schadet. Trotzdem prägen natürlich die Diskussionen über die einzelnen Schritte zur Vereinheitlichung der Systeme die gesundheitspolitische Agenda mit. Das ist für uns durchaus eine Herausforderung. Bei den bisherigen Forderungen nach einer Radikalreform konnten wir die Absurdität leicht transparent machen: Sie würde nicht nur das Ziel von „mehr Gerechtigkeit“ nicht erreichen, sondern dabei auch die gute Versorgung gefährden. Das kann man zeigen.

Jetzt haben wir es mit Projekten zu tun, die die Bürgerversicherungsparteien unter anderen Überschriften verkaufen können. Zum Beispiel den Arbeitgeberzuschuss für Beamte als sozialpolitisches Instrument für Beamte mit kleinen Einkommen. Und die Kommission zur Reform der Gebührenordnungen spricht plötzlich über die richtigen „Anreize“ für Leistungserbringer. Das ist eine ganz andere Diskussionsebene.

Statt uns auf einer weltanschaulichen Ebene zu bewegen, müssen wir jeden konkreten Schritt beleuchten: Was ist die Zielsetzung? Sind die Instrumente richtig? Wie hoch sind die Transaktionskosten? Gibt es preiswertere Alternativen?

Welche konkreten Herausforderungen drohen in diesem Jahr?

Ein ganz zentrales Thema ist die zukünftige Finanzierung der Pflegeversicherung. Im Moment sind leider diejenigen in der Offensive, die immer mehr Umlagefinanzierung fordern. Bestes Beispiel ist das Bundesland Hamburg, das mit dem sogenannten Sockel-Spitze-Tausch die Eigenverantwortung begrenzen und die Versicherungsleistungen weiter ausbauen will. Und das nach einem Beitragsanstieg um 50 Prozent in nur fünf Jahren.

Wie wird sich das weiterentwickeln?

Im Gesundheits- und Pflegebereich diskutiert die Politik über Leistungsausweitungen, als gäbe es kein Morgen. Es wird aber nicht ständig wirtschaftlich so gute Zeiten wie jetzt geben – mit einem so hohen Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter, die in die Versicherung einzahlen. Außerdem wird die Babyboomer-Generation in den nächsten 10 bis 15 Jahren in Rente gehen und muss dann von den Jüngeren mitfinanziert werden. Schon bald werden wir wieder Diskussionen über Leistungskürzungen und Beitragssteigerungen führen.

Gefordert wurde auch ein Steuerzuschuss zur Pflege …

Auch ein Steuerzuschuss wäre nicht nachhaltig. Wie bei der Beitragsfinanzierung gibt es auch hier das Problem, dass das Verhältnis zwischen den Einzahlern und denen, die Leistungen erhalten, immer ungünstiger wird. Mit Blick auf diejenigen, die das System finanzieren, muss die Politik also irgendwann gegensteuern. Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung wird es dann nicht zum ersten Mal zu einer Diskussion über die Kürzung von Leistungen kommen. Und in der Pflege wird die Zeit umlagefinanzierter Leistungsausweitungen schon bald ein Ende haben. Die Versicherten werden für den Pflegefall zukünftig mehr vorsorgen müssen.

Lässt sich das durchsetzen?

Jede Diskussion über Leistungseinschränkungen kann in einer alternden Gesellschaft natürlich zu erheblichem Widerstand führen. Ich bin aber optimistisch, dass auch die ältere Generation den Zusammenhang sieht, dass dieses Land für zukünftige Beitragszahler-Generationen attraktiv bleiben muss. Da müssen wir zu einem fairen Ausgleich kommen.

Wo sehen Sie die PKV im Jahr 2030?

Die Stärken der PKV werden in einer alternden Gesellschaft nicht nur Bestand haben, sondern sogar noch an Bedeutung gewinnen. Wahlfreiheit, lebenslange Leistungsgarantie, Eigenverantwortung, die Bildung von Alterungsrückstellungen oder auch Therapiefreiheit und Innovationsmotorik sind hier die entscheidenden Stichworte. Diese Wesensmerkmale werden wir noch stärker als bisher herausstellen. Zudem sind der demografische Wandel, die Individualisierung der Gesellschaft sowie die Digitalisierung Herausforderung und Chance für einen Neustart der Beziehungen zwischen Versicherten und Versicherern.

Nehmen wir zum Beispiel den Bereich eHealth: In Zukunft werden Patienten in der Lage sein, auf ihre Gesundheitsdaten jederzeit, an jedem Ort und präzise wie vollständig zuzugreifen. Hier können die Versicherungsunternehmen neue Schnittstellen zum Kunden schaffen und ein integriertes Versorgungsmanagement anbieten. Das beschleunigt den Weg der Privaten Krankenversicherung vom „payer“ zum „player“.

 

Verantwortlich für den Inhalt:

Verband der privaten Krankenversicherung e.V., Bayenthalgürtel 26, D­-50946 Köln Tel.: 0221 / 9987 0, Fax: 0221 / 9987 3950, www.pkv.de